Kolumne

Tim Thoelke über das Dorfleben, die Scorpions und den Kalten Krieg

 

Foto: Enrico Meyer

Vor Kurzem war ich mal wieder in der niedersächsischen Provinz, in einer hübsch gelegenen Ecke an der A 7, in einem Ort namens Mellendorf. Tatsächlich war mein Besuch kein reiner Zufall, denn genau an diesem Fleck zwischen Lüneburger Heide und Hannover habe ich die ersten 15 Jahre meines Lebens verbracht. Obwohl mich keine verwandtschaftlichen Beziehungen mehr an die Gegend binden, ist es mir ein gewisses Vergnügen, alle paar Jahre einen Blick auf das gute alte Dorfleben zu werfen, welches mich in meiner Kindheit prägte und das ich mittlerweile seit 30 Jahren hinter mir gelassen habe. Es ist immer wieder erkenntnisreich, sich unter den Eindrücken von ausgedehnten Spaziergängen durch die alte „Hood“ noch einmal an die Wünsche seiner Kindheit und Jugend zu erinnern. Sie nach all den Jahren auf den Grad ihrer Wahrgewordenheit zu überprüfen, ebenfalls.

 

Wenn ich mich heute in meinem Heimatdorf umsehe, stelle ich fest, dass es deutlich gewachsen ist. Doch auch wenn es als Hauptdorf der umliegenden Gemeinde als so etwas wie das regionale Zentrum für gewerbliche und industrielle Unternehmen gilt, kann man selbst an dem zentralsten Platz des Dorfes nach wie vor die Kühe muhen hören – und es riecht auch immer noch ein bisschen nach Mist.

 

Unter uralten, verzaubert wirkenden Eichen lebend, schauen die Dorfbewohner genau wie früher vor allem auf sich selbst und nur selten ein bisschen neidisch rüber ins Nachbardorf, wo gleich drei bekannte Musiker wohnen: Klaus Meine (Scorpions), Matthias Jabs (Scorpions) und Heinz Rudolf Kunze (Heinz Rudolf Kunze). Hätte nicht wenigstens Rudolf Schenker (klar, Scorpions) herziehen können? Nein, der feine Herr wohnt in einem Kaff 20 Kilometer weiter nördlich. Soll er doch da bleiben – hinterm Mond!

 

Nein, Grundlegendes hat sich nicht geändert. Wenn ich früher das Fenster meines Kinderzimmers öffnete, hörte ich die Vögel zwitschern. Das war schön. Kam ein Sturm auf, rauschte die Birke vor meinem Fenster, das war auch schön. Aber nach Sonnenuntergang an windstillen Tagen hörte ich: nichts. Totale, endlose Stille. Und die fühlte sich für mich an, als sei die Welt da draußen gerade gestorben, vernichtet durch einen lautlosen Atomschlag oder ein tödliches Virus der Russen (es war Kalter Krieg!). Seltsam, aber als Dorfkind hasste ich an meiner Heimat vor allem das, was die meisten Menschen in der Natur suchen: die Ruhe.

 

Denn die war furchtbar langweilig und ich wollte ja ein ganz anderes, ein möglichst aufregendes Leben. Mit 14 fing ich an, nachts nach „Licht aus“ heimlich Jazz im Radio-Spätprogramm zu hören und auf Kassette aufzunehmen. Diesen unglaublich urbanen, weltoffenen Sound liebte ich und wenn der Sender um Mitternacht in die Klassik-Schleife schaltete, spulte ich zurück und hörte die Aufnahme noch einmal. Ich stellte mir vor, dass in den Jazzclubs der Städte jetzt in diesem Augenblick immer noch Leute wach waren und diese exotische und verstörend schöne Musik hörten, sich unterhielten, lachten, rauchten, cool waren.

 

Zu dieser Zeit entdeckte ich eine ausgesprochene Nachtaktivität bei mir, die mich bis heute begleitet. Ich gehe immer noch kaum vor vier ins Bett (weswegen ich zum Beispiel keiner Arbeit nachgehe, die vormittags stattfindet). Natürlich blieb ich als Teenager ohne Wissen meiner Mutter so lange wach, die sich wunderte, warum ich morgens derartige Probleme mit dem Aufstehen hatte. Es ist im Nachhinein schon erschreckend: Die Personen, die man im Leben am meisten getäuscht und belogen hat, sind meistens die eigenen Eltern. Sorry, Mum – aber Drogen hab ich wirklich nie genommen! Also fast.

 

So lag ich also oft bis tief in die Nacht auf meinem Bett im kleinen Mellendorf und träumte von dem geheimnisvollen Treiben in der großen Stadt. Von den aufregenden Dingen, die gerade in Hamburg, London oder New York passierten. Doch hier auf dem Dorf, da schlief schon alles, still und friedlich. Und wieder hatte ich das Gefühl, die Welt um mich herum sei gerade gestorben.

 

Ein paar Jahre später saß ich nachts im Bus, auf einer Jugendreise nach Spanien. Alle schliefen, nur der Busfahrer war noch wach, hörte leise Musik und murmelte hin und wieder unverständliches Zeug in Richtung der Gruppenleiterin oder des Ersatzbusfahrers. Da wurde mir klar: Nicht die Ruhe löst bei mir ein friedliches Gefühl aus, sondern das Wissen, dass da immer noch jemand wach ist. Jemand, der überlebt hat.

 

Die beiden größten Jugendwünsche des schon erwähnten Scorpions-Gitarristen waren nach eigenen Aussagen „überall zu spielen, wo es eine Steckdose gibt“ und „einmal zu den 30 größten Rockbands zu gehören“. Immerhin, einer ist in Erfüllung gegangen.

 

Mein dringlichster Wunsch als Jugendlicher war rückblickend gesehen wohl „in die große Stadt zu ziehen“. Heute allerdings genieße ich die langen Spaziergänge durch die Natur, das gute Essen im Landgasthof – und vor allem das beruhigende Gefühl zu wissen, dass ich, wenn die Dunkelheit anbricht, das Dorf jederzeit Richtung Leipzig verlassen kann.

 

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