Kolumne

Tim Thoelke über Sardinen, Kobras und Satzzeichen

 

 

Obwohl mir eigentlich zeit meines Lebens kein Anlass zu gering war, irgendetwas oder -jemanden zu feiern, scheint die Anzahl der weltweit abgehaltenen Feier- und Aktionstage mittlerweile seltsame Ausmaße angenommen zu haben.

 

Dass es neben Klassikern wie dem Tag der Arbeit oder dem Internationalen Frauentag schon lange Gedenktage wie den Welttag des Buches gibt, der zum Lesen anregen und den Rechten der Autorinnen und Autoren eine Plattform geben soll, ergibt für mich (nicht nur als Autor) Sinn. Genau so etwas wie ein Weltdiabetestag, der in Erinnerung rufen soll, dass immer mehr Menschen von dieser Krankheit betroffen sind – vor allem aber, dass es mit gesunder Ernährung ein probates Mittel dagegen gibt.

 

Doch die Anlässe für Welt-was-auch-immer-Tage werden seit Jahren immer kleinteiliger: Hat man früher den Welttag der Ozeane gefeiert, gibt es heute einen Internationalen Tag der Sardine. Nun möchte ich der Sardine und ihrer Familie der Heringe wirklich nicht zu nahe treten, immerhin sind sie bedeutende Speisefische, doch wird die allgemeine Aufmerksamkeit und Feierlaune durch solche Welttage – um im Bild zu bleiben – schon etwas verwässert.

 

Ich bin mir nicht sicher, ob wir zwingend einen Nimm-deinen-Hund-mit-zur-Arbeit-Tag (am 23. Juni) oder einen Tag der offenen Töpferei (am zweiten Märzwochenende) brauchen. Wird die Welt wirklich besser durch einen International Hamburger Day (28. Mai) oder etwa durch einen Tag der Urzeitkrebse (am 16. Mai)? Wie viele Leute zelebrieren am 2. Juni tatsächlich den Ruf-Karamellbonbon!-um-Kobras-in-Nordamerika-zu-vertreiben-Tag? Für mich klingt das verdächtig nach einer Idee vom 26. März – dem Erfinde-deinen-eigenen-Feiertag-Tag.

 

Spaß beiseite: Mir ist zwischen all diesen Absurditäten vor einiger Zeit ein Gedenktag aufgefallen, der vielleicht im ersten Augenblick kurios klingen mag, jedoch leider alles andere als lustig ist.

 

Am 10. August wird der Internationale Tag gegen Hexenwahn begangen, der darauf aufmerksam machen soll, dass bis zum heutigen Tag Menschen als angebliche Hexe beschuldigt und deswegen verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt und ermordet werden.

 

Auch wenn wir in Europa oft denken, dass Hexenverfolgungen seit dem Mittelalter der Vergangenheit angehören, ist dieser furchtbare Aberglaube bis heute weit verbreitet – in insgesamt 43 Ländern der Erde. Es wird angenommen, dass durch Hexenwahn seit 1960 weltweit mehr Menschen getötet wurden als auf dem Höhepunkt der Verfolgungswelle in Europa zwischen 1550 und 1650. Betroffen sind vor allem Frauen, aber auch Männer und viele sogenannte Hexenkinder. Afrika weist dabei die höchsten Opferzahlen auf: Allein in Tansania wurden seit Mitte des 20. Jahrhunderts über 40.000 Menschen wegen angeblicher Hexerei ermordet. Aber auch in Asien, Ozeanien und Lateinamerika gibt es viele Fälle, so wurden im indischen Bundesstaat Assam in den Nullerjahren 400 Mitglieder der indigenen Bevölkerung aufgrund von Hexereivorwürfen getötet.

 

Die Gründe für die Beschuldigungen von Menschen als Hexen oder Zauberer sind vielfältig und nicht immer im Glauben begründet. Armut, Epidemien, Kriege und mangelnde Bildung sind Auslöser für Hexenwahn. Aber auch Habgier und Rache gelten als Motive für die Anschuldigungen, die sich, einmal geäußert, nur schwer oder gar nicht widerlegen lassen.

 

Trotz dieser furchtbaren Zahlen bin ich, als ich mir die Welt-Gedenktage einmal etwas genauer angesehen habe, auch auf eine positive Geschichte gestoßen:

 

An jedem 16. April findet der Internationale Tag des Semikolons statt. Auch wenn der Name dieses Aktionstages einen literarischen oder kalligrafischen Kontext nahelegt, geht es hier tatsächlich um die symbolische Bedeutung des Schriftzeichens, welches ja die Unterbrechung eines Satzes anzeigt, ohne diesen zu beenden. Ins Leben gerufen wurde der World Semicolon Day von Aktivisten der Suizid-Prävention, denn er soll die grammatikalische Funktion dieses Satzzeichens metaphorisch auf das individuelle Leben eines Menschen übertragen. Daraus resultiert der Leitsatz: My story isn’t over, der sagen soll: Du bist der Autor deines Lebens und entscheidest dich, dein Leben (den Satz) nicht zu beenden.

 

So wurde das Semikolon im Laufe der Jahre zum Symbol des nicht stattgefundenen Freitodes. Wenn Sie also zufällig mal eine Person sehen sollten, die ein Semikolon als Tattoo am Körper trägt, dann haben Sie es möglicherweise mit einem Menschen zu tun, der einen sehr düsteren Gedanken mindestens einmal erfolgreich überwunden hat und dem dieses simple Satzzeichen Kraft und Hoffnung gibt. Oder, um auf den Anfang meiner Kolumne zurückzukommen, für den dieser Welttag ein verdammt guter Grund zum Feiern ist.

 

 

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