Kolumne

Tim Thoelke über Ungeziefer, Straßenkehrer und Schürfwunden

 

 

Vor einigen Monaten hat sich mein Leben etwas überraschend und in nicht unerheblichem Maße verändert. Plötzlich freue ich mich beim Blick aus dem Fenster nicht mehr nur über strahlenden Sonnenschein, sondern auch über Regen. Ich komme abends mit dreckigen Klamotten und Erde unter den Fingernägeln nach Hause, körperlich vollkommen erschöpft und doch befriedigt. Auch wenn es einigen Lesenden jetzt kurz durch den Kopf gegangen sein mag, nein, ich bin nicht unter die Leichenschänder gegangen – tatsächlich bin ich seit etwa einem Jahr glücklicher Besitzer eines Leipziger Schrebergartens.

 

Dabei habe ich schnell festgestellt, dass das Anlegen, Pflegen und Erhalten eines solch eigentlich relativ kleinen Grundstücks alles andere bedeutet, als entspannt im Liegestuhl zu sitzen und den Möhrchen beim Wachsen zuzusehen – nein, das Leben eines Kleingärtners bedeutet Kraft- und Ausdauersport, bei dem der Boden tagtäglich mit dem eigenen Schweiß und Blut angereichert werden will. Zusätzlich steht Theorie auf dem Stundenplan, die Namen und Bedürfnisse der Pflanzen wollen gelernt werden, genauso wie die der mal willkommenen, mal verhassten tierischen Mitesser. Dabei schwanken die Gefühle für das früher als ekelig wahrgenommene Ungeziefer und Gewürm zwischen Bewunderung, Angst und Liebe. Plötzlich ertappt man sich dabei, wie man verschwitzt vor einer ausgegrabenen Wurzel steht wie Muhammad Ali vor dem am Boden liegenden Sonny Liston und wie der berühmte Boxer schreien möchte: „Steh auf und kämpfe, du Bastard!“ – nur um kurz darauf bedingungslos vor einem simplen Salat namens Giersch zu kapitulieren.

 

Oft kamen mir in diesen Momenten die Worte aus Michael Endes Buch Momo – und vor allem die des Straßenkehrers Beppo – in den Sinn: »Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang, das kann man niemals schaffen, denkt man. […] Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. […] So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. […] Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat.«

 

Man lernt also viel über Flora, Fauna und natürlich über sich selbst, aber auch über andere Menschen. So sind zum Beispiel die überaus freundlichen Personen, die einen über den Gartenzaun so bezaubernd anlächeln und sich höflich für die Störung entschuldigen, nie die benachbarten Laubenpieper, die einem zum Einstand ein Körbchen Erdbeeren bringen, sondern immer Vereinsfremde, die wissen wollen, ob es noch freie Parzellen gibt.

 

Tatsächlich ist das Ergattern eines Schrebergartens ein Glücks- und Geduldsspiel. Obwohl es in Sachsen die höchste Kleingartendichte Deutschlands gibt und darüber hinaus Leipzig mit 39.000 Parzellen auf einer Fläche von circa 1.240 Hektar einen bundesweiten Rekord aufstellt, übersteigt der Bedarf an wohnungsnahen Datschen das Angebot deutlich. Zwar kommt hier auf 16 Einwohner ein Kleingarten, trotzdem muss man sich nach erfolgter Anmeldung bei der Laubenkolonie seines Vertrauens auf eine bundesweit durchschnittliche Wartezeit von drei Jahren einstellen. Die Nachfrage nach Gärten ist vor allem in den Ballungszentren ungebrochen hoch – so träumt man von den ersten selbst geernteten Zucchini in Berlin nicht selten sieben Jahre und in Hamburg im Mittel sogar bis zu acht Jahre. In den weniger dicht besiedelten Regionen und Bundesländern sieht es dagegen ganz anders aus: In Thüringen stehen 7 %, in Sachsen-Anhalt sogar 17 % der Gärten leer.

 

Insgesamt gibt es in Deutschland mehr als eine Million Kleingärten, die meisten davon in Städten. Bundesweit nutzen somit etwa fünf Millionen Kleingärtnerinnen und Kleingärtner und deren Anhang die grünen Kleinode regelmäßig zur Ausübung des laut Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e. V. »schönsten Hobbys der Welt«.

 

Neben der Freude an diesem Hobby dürfte für den anhaltenden Erfolg der Gartensparten auch der relativ geringe Pachtpreis mitverantwortlich sein, der dafür sorgt, dass sich quasi jeder den Wunsch nach einem eigenen Stück Natur erfüllen kann. Der bundesweit durchschnittliche Kurs für einen Kleingarten von 18 Cent pro Quadratmeter und Jahr wird in Leipzig mit 12 Cent noch einmal deutlich unterboten. Das wären bei einer Parzelle von 300 Quadratmetern, die in Leipzig genau im Mittelmaß liegen würde, dann gerade mal 36 Euro im Jahr (zum Vergleich: In Dresden würde man für das gleiche Stück Land 180 Euro bezahlen). Auch ich freue mich über eine ähnlich geringe Pacht, aber unabhängig davon lautet die Bilanz nach dem ersten Jahr in einer Welt aus Arbeit, Schürfwunden, schmerzendem Tennisarm, unzähligen gemurmelten Flüchen und Gedanken an Beppo Straßenkehrer: Kein Geld der Welt trennt mich jemals wieder von meinem wundervollen Schrebergarten! 

 

 

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