Kolumne

Tim Thoelke über geheimnisvolle Bücher und kostspielige Hobbys

 

 

Wer Freude am Lösen von Rätseln hat, oder sogar eine Schwäche für das Entschlüsseln von Geheimcodes, dem empfehle ich eine Beschäftigung mit dem sogenannten Voynich-Manuskript, dessen Inhalt seit Jahrhunderten selbst den angesehensten Kryptologen unbekannt geblieben ist – kurz: mit dem geheimnisvollsten Buch der Welt.

 

Das rätselhafte Kunstwerk wurde 1912 von dem polnischen Antiquar und Büchersammler Wilfrid Voynich (nach dem es heute benannt ist) in einem Jesuitenorden in der Nähe von Rom wiederentdeckt und aufgrund von Material und Aussehen zunächst auf eine Entstehungszeit zu Anfang des 16. Jahrhunderts datiert – eine genauere Untersuchung mittels Radiokarbonmethode ergab später einen Zeitraum zwischen 1404 und 1438.

 

Das aus über 200 teilweise mehrfach ausklappbaren Seiten bestehende Manuskript enthält neben einer weder lesbaren noch verstehbaren Handschrift vor allem fremdartige astrologische Zeichnungen, Abbildungen von diversen unbekannten Pflanzen und Skizzen von Gruppen nackter Frauen, die mit gewölbten Bäuchen in einem komplexen, durch Röhren verbundenen Wassersystem baden.

Bemerkenswert: Es gibt keine einzige Darstellung von einem Mann und – für das Mittelalter noch ungewöhnlicher – keinerlei christliche Symbolik.

 

Die Illustrationen sind umgeben von insgesamt etwa 170.000 mysteriösen Buchstaben, aus denen sich ein Alphabet von 20 bis 30 Zeichen ableiten lässt. Trotz der vielen Bilder, die mit dem Text in direktem Zusammenhang stehen, konnte ihn bisher niemand dechiffrieren. Damit ist der Code des Voynich-Manuskripts schwerer zu knacken als der der Enigma.

 

Der oder die Autoren oder Autorinnen der Schrift sind unbekannt, spekuliert wurde über viele Namen, darunter so prominente wie die von Leonardo da Vinci oder Nostradamus. Andere Experten vermuten zwei oder mehr Verfasser, und selbstverständlich wittern Verschwörungserzähler und Esoteriker das Werk von Außerirdischen – mit geheimen Zauberformeln und Antworten auf die Fragen nach dem Sinn und allem anderen.

 

Obwohl keine Übersetzungstheorie bewiesen ist (die meisten sind nicht einmal gut begründet), gibt es ihrer viele. Einige meinen, hier frühe Ansätze zur Vererbungslehre entdeckt zu haben: Bilder von Wurzeln, Knollen, Samen, Keimlingen, Früchten etc. könnten in stilisierter Form auf das damals eher heikle Thema der menschlichen Abstammung hindeuten. Zusätzlich gibt es die These, dass hier einige Adlige versuchten, Akzeptanz und sogar Gutheißung ihrer unehelichen Abstammung herauszuarbeiten, indem sie die Stärken von Kreuzung und Vermischung der Gene darstellten. Diese Deutungen werden allerdings ausschließlich von den enthaltenen Abbildungen hergeleitet, bei der Übersetzung des Textes stehen die Forscher vor noch größeren Herausforderungen.

 

So sind sich die verschiedenen Kryptologen jeweils sicher, als Grundlage für die mysteriöse Schrift diente Latein, Griechisch, Spanisch, Dänisch, Deutsch, Hebräisch oder irgendeine vergessene mittelamerikanische Sprache. Andere meinen zu wissen, dass es sich in dem Buch um eine sogenannte Apriorische Sprache handelt, also um künstliches Wortmaterial, dessen Basis keine bereits existierende Sprache ist. Diese Theorie würde immerhin auch erklären, warum bisher keine Übersetzung gelungen ist, da bei so einer Plansprache eine Decodierung ohne bekanntes Konstruktionsprinzip generell sehr schwierig bis unmöglich ist.

 

Und dann gibt es da noch eine Erklärung, die mir persönlich eigentlich am besten gefällt: Was, wenn ein gelangweilter Adliger einfach irgendeinen Blödsinn zusammengeschrieben hätte, der gar keinen Sinn ergibt? Ja, das Ganze wäre ein überaus kostspieliges Hobby gewesen (wertvolles Pergament, hochwertigste Tinte) und hätte viele Jahre gedauert. Aber wenn man sich ansieht, wofür die Milliardäre dieser Welt heute so ihr Geld und ihre Zeit verjubeln – warum eigentlich nicht? Und was spricht dagegen, dass dieser überaus wohlhabende Mensch ganz einfach nicht alle Tassen im Schrank hatte? Oder wenn er wie John Forbes Nash (verkörpert von Russell Crowe im Film A Beautiful Mind) genial gewesen wäre, aber an paranoider Schizophrenie gelitten hätte? Dann wäre ihm (vielleicht sogar unbewusst) einer der größten Bluffs der Geschichte gelungen, er hätte unzählige mächtige und kluge Menschen, Kaiser, Künstler und Gelehrte getäuscht und sinnlos deren Zeit verschwendet.

 

Aber machen Sie sich doch selbst ein Bild (resp.: verschwenden Sie doch selbst Ihre Zeit): Das Original des Voynich-Manuskripts ist seit 1969 im Besitz der Yale-Universität. Im Internet-Archiv archive.org kann man sich Seite für Seite durch hochauflösende Scans des Buchs blättern. Vielleicht gelingt Ihnen ja der große Durchbruch bei der Entschlüsselung – ich wünsche viel Erfolg!

 

 

  

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