Kolumne

Tim Thoelke über Blaumänner, Sofas und Türen

 

 

Foto: Enrico Meyer

Als ich neulich mit meinem Kollegen Donis nach einem Auftritt in Hannover mit dem Zug zurück nach Leipzig fuhr, wurden wir unfreiwillig Zeugen eines Schauspiels aus der Abteilung absurdes Bauerntheater. In Braunschweig betraten zwei Handwerker den Zug, die, allem Anschein nach, direkt nach getaner Arbeit zum Bahnhof gefahren waren. Darauf wiesen zumindest die mit Farbe und Dreck beschmutzten Blaumänner hin, die die beiden trugen, als Gepäck führten sie nur jeweils zwei Plastiktüten mit sich. Das verräterische Klirren aus den Tüten legte die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Inhalt um Getränkeflaschen handelte, das allgemein laute Gebaren und der etwas unsichere Gang wiesen auf alkoholische Getränke hin. Mein Mitreisender kommentierte prophetisch: „Ich glaube, es hat gerade jemand RTL II für uns angemacht.“

 

Als die beiden sich an einen freien Viererplatz setzten und ihre Getränkeflaschen auf den Tisch stellten, präsentierten sie uns direkt das fehlende Glied in der Ereigniskette zwischen Arbeit und Zug: Die überwiegende Mehrheit der Bier- und Weinbrandflaschen war bereits leer. Eine Tatsache, die sich nicht nur in der Qualität, sondern auch in der Lautstärke ihrer Unterhaltung widerspiegelte, sodass wir, obwohl wir mindestens zehn Reihen entfernt saßen, ohne Probleme den vorgetragenen Dialogen der nächsten neunzig Minuten folgen konnten. Zur besseren Orientierung hatten wir unseren neuen Mitfahrern schon zwei Spitznamen verpasst, die sie recht gut zu charakterisieren schienen: Pulle und Wampe.

 

Schnell fiel uns auf, dass sich Pulle und Wampe offensichtlich beide auf jeweils einen kernigen Sinnspruch festgelegt hatten, den sie sich quasi pausenlos lautstark in Erinnerung riefen. So wurde jeder Schluck Bier oder Schnaps mit ihren ausgesuchten, anscheinend zu jeder Situation passenden Lebensweisheiten quittiert, die ich schon aufgrund der unzähligen Wiederholungen wohl nie mehr vergessen werde.

 

Pulle, der Aktivere des Duos, hatte sich eine Art Motivationsformel zum Leitsatz gemacht, er skandierte ein- bis zweimal pro Minute: „Runter vom Sofa!“ Wampe konterte jedes Mal mit einem Spruch, der statt einer universellen Lösung allerdings eher eine Problemstellung bereithielt: „Du kriegst die Tür nicht zu!“

 

Dass diese Marotte sehr sympathisch und lustig ist, fand weltweit niemand, außer einem Quartett von Keglerinnen, das am gegenüberliegenden Tisch von Pulle und Wampe saß und selbst schon diverse Piccolos intus hatte. Selbstverständlich kam man sofort ins Gespräch, es wurde von einer Abteilseite auf die andere gerufen, es wurde gelacht, zugeprostet, Dutzende Male zog es Pulle „runter vom Sofa!“ und auch beim gefühlt hundertsten Mal kriegte Wampe „die Tür“ immer noch nicht zu.

 

Nach einer Weile neigten sich die Alkoholreserven der beiden Handwerker dem Ende zu, also schickte Pulle Wampe in die Spur, oder besser gesagt auf den Weg ins Bistroabteil. Als Wampe etwas bedröppelt zugeben musste, dass er kein Geld mehr hatte, ließ sich Pulle nicht lumpen und drückte ihm demonstrativ und mit einem Zwinkern in Richtung Frauentisch einen Zwanzigeuroschein in die Hand. Also trabte Wampe los.

 

Für Pulle war die Bahn nun frei und er rutschte sofort rüber zu den „Mädels“, vier Frauen, die die Vierzig schon eine Weile hinter sich hatten. Pulle schäkerte, was das Zeug hielt. „Runter vom Sofa, seid ihr geil!“ war in diesem Zusammenhang eine der charmanteren Aussagen, an die ich mich erinnern kann. Die Damen fanden das offensichtlich ganz bezaubernd, denn sie stießen kichernd ihre Sektgläser an Pulles Bierflasche, dann fingen die fünf an, primitive Lieder zu singen und unzählige vulgäre Zoten auszutauschen. Im Abteil machte sich mehr und mehr eine Stimmung wie in einer schmuddeligen Hafenbar breit. Ich wünschte mir ein ums andere Mal, ich könne von RTL II wenigstens einmal für fünf Minuten auf einen anderen Sender umschalten (und sei es auch nur auf RTL) mein Sitznachbar Donis dagegen amüsierte sich köstlich.

 

Wir hatten ihn schon fast vergessen, da betrat Wampe plötzlich wieder die Bühne, mit derartig Schlagseite, dass er sich nur auf den Beinen halten konnte, indem er sich mit beiden Händen an den Sitzen festhielt. „Wo ist das Bier?“, fragte Pulle. „Welches Bier?“, lallte Wampe und die Kegelgruppe brüllte vor Lachen.

 

„Runter vom Sofa, dann hol ich jetzt eben selber welches!“, bellte Pulle. „Gib mir das Geld!“

 

Wampe sah Pulle eine Weile an und unterdrückte einen Rülpser: „Welches Geld?“

 

Jetzt lachte das ganze Zugabteil. Obwohl Wampe mit schwerer Zunge immer wieder versicherte, dass er nie Geld von Pulle bekommen hatte, war jedem hier klar, dass der Zwanziger leider nur für die Wegzehrung gereicht hatte. Pulle, der jetzt im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr flüssig war, seufzte: „Runter vom Sofa, dann trink ich jetzt eben Sekt!“

 

In diesem Augenblick verstummte das Lachen der Kegeldamen. In rustikalen Worten teilten die vier Frauen ihm mit, dass der Tag, an dem auch nur ein Tropfen von ihrem Schaumwein in seine ungehobelte Kehle läuft, der Tag ist, an dem die Erde in die Sonne stürzt.

 

So trollte sich Pulle wieder in seine Ecke, in der Wampe bereits schlief. In Halle stiegen die beiden aus, die leeren Flaschen klimperten in ihren Plastiktüten, sonst war alles ruhig. Kein Streit zwischen den beiden, kein böses Wort.

 

Pulle und Wampe sind eben Freunde.

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