Kolumne

Tim Thoelke über einen Liederzyklus und zwei Ausnahmekünstler

 

 

Dieser Tage hängen meine Gedanken immer wieder an einem Liederzyklus, mit dem ich mich vor einigen Wochen intensiv beschäftigt habe: die Winterreise von Franz Schubert.

 

Schubert komponierte mit der Winterreise schon zum zweiten Mal Lieder zu einem Gedichtzyklus von Wilhelm Müller (vier Jahre zuvor erschuf er die Musik zu Die schöne Müllerin), mit der Besonderheit, dass er im Februar 1827 zunächst nur zwölf Gedichte des Zyklus vertonte und erst kurz danach erfuhr, dass weitere zwölf Gedichte existierten, deren musikalischer Umsetzung er sich schließlich im Oktober 1827 widmete. Schubert entwarf damit ein Jahr vor seinem Tod nicht nur einen der bekanntesten Liederzyklen der Romantik und der deutschen Sprache, sondern auch die wohl großartigste Einheit von Wort und Ton des 19. Jahrhunderts.

 

Obwohl sich Franz Schubert und Wilhelm Müller nie persönlich begegnet sind (es ist nicht einmal belegt, ob Müller vor seinem Tod 1827 noch von Schuberts Vertonungen erfahren hat), drängt sich der Eindruck auf, als wären in der Winterreise zwei Persönlichkeiten auf künstlerischer Ebene miteinander verschmolzen.

 

Inhaltlich geht es in den 24 Gedichten bzw. Liedern um die Reise eines unglücklich Verliebten, der sich nachts, mitten im Winter, auf den Weg durch die verschneite Landschaft und die dunklen Pfade seiner eigenen Seele macht. Die Handlung folgt keinem stringenten Erzählstrang, sondern ist eher eine Aneinanderreihung von hoffnungslosen Gedanken, aufflammenden Sehnsüchten und schmerzhaften Erinnerungen, die insgesamt das Psychogramm eines schwer depressiven und suizidgefährdeten Menschen zeichnen.

 

In den fast 200 Jahren seit seiner Entstehung ist der Zyklus von Interpretationen regelrecht überhäuft worden. Relativ unbestritten ist die versteckte politische Symbolik der Texte sowie die gesellschaftskritische Ironie der Musik. Es finden sich diverse Anspielungen auf die damalige, für viele unbefriedigende (und für Künstler sogar gefährliche) politische Situation des Metternich-Regimes. So liest man zwischen den Zeilen nicht nur über enttäuschte Liebe, sondern auch über unerfüllten Nationalstolz und erstickten Freiheitsdrang.

 

Zur besonderen Güte und Vielschichtigkeit des Werkes gehören neben derartigen Doppeldeutigkeiten aber vor allem die persönlichen und mit der Geschichte verknüpften Biografien der Künstler. Ohne sie wäre die fast masochistische Genauigkeit, mit der die gebrochene Psychologie des Protagonisten durch den Texter beschrieben wird, genauso wenig denkbar wie die verletzlich-private und oft tieftraurige Umsetzung durch den Musiker.

 

So verarbeitete Wilhelm Müller in der Winterreise auch seine unglückliche Liebesbeziehung, die er als Soldat während der Befreiungskriege hatte und wegen der er schließlich sogar unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wurde. Es hatte sicher Einfluss auf sein späteres Werk, dass es Winter war, als er mit gebrochenem Herzen in seine Heimat zurückkehrte.

 

Franz Schubert auf der anderen Seite hat wohl in dem einsamen und sich dem Tode nahe fühlenden Wanderer auch sich selbst gesehen. Auch er kannte die Härte von unerfüllter Liebe, denn der Anblick des kleinen übergewichtigen Musikers ließ Frauenherzen nicht gerade höher schlagen. Der erste Schubert-Biograf Heinrich Kreissle von Hellborn beschrieb Schuberts Äußeres als „fast abstoßend“ und schilderte sein „dickes, etwas aufgedunsenes Gesicht“ als „weder geistreich noch freundlich“. Und genau wie der namenlose Wanderer aus Müllers Feder war Schubert nicht nur einsam, sondern auch dem Tode geweiht: Er litt seit fünf Jahren an Syphilis, was zu dieser Zeit einem Todesurteil gleichkam. Dass genau in dem Jahr, in dem Schubert die Winterreise komponiert hat, sein großes Vorbild Ludwig van Beethoven gestorben ist, dürfte zusätzlich nicht zur Aufhellung der allgemeinen Stimmung während der Arbeit beigetragen haben.

 

Auf den befreundeten Dichter Johann Mayrhofer machte Schubert zu dieser Zeit folgenden Eindruck: „Er war lange und schwer krank gewesen, er hatte niederschlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben war die Rosenfarbe abgestreift; für ihn war Winter eingetreten. Die Ironie des Dichters, wurzelnd in Trostlosigkeit, hatte ihm zugesagt.“

 

Auch Hofrat Joseph von Spaun, zu dem Schubert eine lebenslange Freundschaft pflegte, berichtet, welchen Einfluss die Winterreise auf die Gemütslage des Komponisten hatte: „Er war durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, erwiderte er: Nun, ihr werdet bald hören und begreifen. Eines Tages sagte er zu mir: Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Kranz schauerlicher Lieder vorsingen. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war.

 

Die Winterreise sollte Franz Schubert nicht mehr loslassen – bereits todkrank und ans Bett gefesselt nutze er 1828 die letzten lichten Momente seines Lebens, um noch einmal Korrekturen daran vorzunehmen.

 

Es ist der Höhepunkt im Schaffen von zwei Ausnahmekünstlern: exzessiv melancholisch, faszinierend tiefgründig und letztendlich sogar etwas tröstlich. Ich kann jedem nur empfehlen, irgendwann einmal mit den beiden auf diese Reise zu gehen.

 

 

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