Kolumne

Tim Thoelke über Schmalspurbahnen, Betonbauer und Bierkönige

 

 

Vor Kurzem eröffnete mir mein Kalender die Möglichkeit, einen kleinen Urlaub von einer Woche zu nehmen, und da der Winter schon mit einem Bein in Leipzig stand und die näheren Flugziele in warme Regionen vom Flughafen Leipzig aus überschaubar sind, entschloss ich mich zu einem Kurztrip auf die Baleareninsel Mallorca.

 

Nun muss ein Aufenthalt auf Mallorca nicht annähernd so einseitig werden, wie viele denken werden. Man kann auf der Insel wunderschöne Spaziergänge und Wanderungen in den diversen Naturschutzgebieten und zu versteckten Stränden unternehmen oder sogar die bis zu 1445 Meter hohen Berge erklimmen. Es lohnt sich, die Hauptstadt Palma zu erkunden, im Es Baluard moderne Kunst zu bewundern, die Kathedrale und das Castell de Bellver zu besuchen oder historische Kleinode wie den Can Balaguer zu entdecken, einen frei zugänglichen Palazzo aus dem 18. Jahrhundert, der von 99,99 % der Touristen übersehen wird. Man kann im Künstlerviertel umherstreifen, einen Jazzclub besuchen oder mit der hölzernen Schmalspurbahn Ferrocarril de Sóller aus dem Jahr 1912 eine Eisenbahnfahrt durch die atemberaubende Berglandschaft unternehmen – es gibt so viele Möglichkeiten.

 

Oder man fährt halt zum Ballermann.

 

Natürlich habe ich es mir nicht nehmen lassen, auch dieses »Ereignis« einmal aus der Nähe zu betrachten. Wer gut zu Fuß ist, kann diesen Ort von Palma aus sogar erlaufen, drei Stunden sollte man für die elf Kilometer allerdings einplanen, denn der wirklich wunderschöne Spaziergang, der immer direkt am Meer entlangführt, verführt zum Bummeln beim Blick über die Bucht von Palma und ihren Stränden.

Sobald man das kleine unbebaute Landschaftsschutzgebiet Es Carnatge und dann das Örtchen Can Pastilla passiert hat, ist man auf der eigentlichen Playa de Palma und damit unübersehbar in Richtung El Arenal unterwegs. Hier schlagen die Herzen der Betonbauer sofort einen Takt schneller, denn dem grauen Baustoff sind auf den folgenden knapp fünf Kilometern kaum noch Grenzen gesetzt. Hotelfestungen reihen sich an Bettenburgen, alles ist größer, wuchtiger und uncharmanter als noch ein paar Kilometer vorher. Nach wenigen Metern auf der Promenade kommt mit der Nummer 15 auch schon das erste Strandlokal der Reihe »Balneario« (spanisch für »Heilbad«), dessen Nummer 6 in den 90er-Jahren von deutschen Kegelbrüdern zu der stilprägenden Begrifflichkeit »Ballermann« umgetextet wurde.

 

Wer jetzt aber denkt, dass es eine spannende Idee sein könnte, sich von Nº 15 bis Nº 6, also direkt bis ins Bermudadreieck zwischen Megapark, Oberbayern und Bierkönig, quasi durchzutrinken, darf keine Überraschungen erwarten: Die Strandbar-Kette hat in jeder Filiale die gleiche überschaubare Karte, das gleiche Geschirr, die fast gleiche Einrichtung. Wer den Weg bis zur sogenannten »Schinkenstraße« und damit zum eigentlichen Ur-»Ballermann« trotzdem schafft, wird dort mit allen Ausformungen von Alkohol- und Partytourismus belohnt, die das Herz und die Leber begehren.

 

Als ich schließlich den Bierkönig erreiche, fällt mir auf, dass die gesamte Umgebung von Parolen geprägt zu sein scheint. Die Menschen hier tragen T-Shirts mit dem Aufdruck »MALLE IST NUR EINMAL IM JAHR«, »GEH WEG, DU BIST KEIN BIER!« oder »ES ESKALIERT EH«. Die Lieder heißen »Da muss ich erst mal ne Nacht drüber saufen« oder »Kann ich so nicht sagen, müsst ich nackt sehen«.

Unzählige Aufkleber verzieren jeden Pfeiler, jeden Kasten, jedes Klo. Scheinbar hat jeder noch so unbedeutende Fußballclub das Bedürfnis, sich hier zu präsentieren. Mir fällt ein Sticker ins Auge mit dem Spruch: »Trink mal mehr, die Leute gucken schon.« Als ich mich über mein kleines Bier unauffällig umsehe, sehe ich einen 1,90 Meter großen mindestens 150 Kilo schweren Typ mit einem »LASS UNS FREMDE BLEIBEN«-T-Shirt, dessen Blick mir suggeriert, dass der Spruch absolut ernst gemeint ist. Zum Glück rempelt mich ein weiterer Fremder an und lallt: »Früher war hier mehr los.« Er stößt sein Glas an meins, umarmt mich und ergänzt: »Aber du bist gut drauf!«

 

Er hat zumindest in puncto Stimmung recht: Spätestens seit den 2010er-Jahren geht die mallorquinische Regierung mit diversen Regelungen gegen die ausschweifenden Saufgelage vor. So wurde die Außen-Musikbeschallung der Bars beschränkt und ab Mitternacht ganz untersagt, Alkohol darf ab 21:30 Uhr nur noch in Kneipen verkauft werden und das Eimer- & Flatrate-Saufen sowie Happy Hours wurden ganz verboten.

 

Die ganzen Beschränkungen zusammen haben aber wohl nicht so viel an mauer Stimmung gebracht wie die immer weiter voranschreitende Form der Selbstinszenierung durch Handy-Fotos und -Videos, die natürlich keinen eigenen Vollrausch bei Social Media abbilden sollen. Jeder unter dreißig guckt hier unablässig in sein Smartphone, wo früher auf Tischen getanzt wurde, wird jetzt getextet, gepostet und auf Likes gehofft. Während man im Bierkönig sitzt, guckt man, was gerade im Megapark abgeht, und umgekehrt – und blöderweise scheint es immer ausgerechnet da richtig toll zu sein, wo man selbst gerade nicht ist. Also wird weitergezogen, um noch bessere Bilder von noch ausgelasseneren Partys zu bekommen – denn online ist eben nicht nur einmal im Jahr, sondern für immer.

 

Ich ziehe irgendwann Richtung Taxistand weiter. Die letzten Stunden waren ein bisschen wie ein Abend, den man zappend vor dem Fernseher verbracht hat – nur dass die Fernbedienung heute irgendwann auf RTL Zwei hängen geblieben ist.

 

 

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