»Jeder Tag ohne Jazz ist ein guter Tag.« Mit diesem Satz brachte ein Bekannter von mir kürzlich seine unumwundene Abscheu gegenüber diesem oft als seltsam und
sperrig empfundenen Musikgenre zu Ausdruck und ging damit noch einen Schritt weiter als die US-amerikanische Journalistin Fran Lebowitz, die in einem Interview konstatierte: »Ich kenne niemanden, der
Jazz mag. Entweder man liebt ihn oder er ist einem egal.«
Allein der Begriff Jazz löst bei vielen Leuten negative Assoziationen aus und bietet sogar Raum für Spott. So wird in Musikerkreisen gerne mal gefragt: Was
unterscheidet einen Rockmusiker von einem Jazzer? Antwort: Der Rockmusiker spielt 3 Akkorde vor 10.000 Leuten. Der Jazzer spielt 10.000 Akkorde vor … hahaha.
Tatsächlich hat Jazz in der Regel so gut wie kein kommerzielles Potenzial, man spielt ihn, weil man ihn spielen will, weil man ihn liebt. Viele Jazzmusiker
verdienen ihre Miete mit kleinen Tanzkapellen, touren mit Bands, die sie okay finden und subventionieren so ihre Leidenschaft zum Jazz. Jazz ist, da würden einem wohl selbst eingefleischte
Hater recht geben, ein wichtiger Teil unserer Musikgeschichte, und man schmückt sich in der kulturellen Öffentlichkeit gerne mit ihm, doch ist er im Grunde nicht mehr als eine Randerscheinung. In der
Stadt findet er meistens in den kleinsten Locations überhaupt statt, auf dem Land findet man ihn fast gar nicht. Gegen den geselligen Dixieland-Frühschoppen unter freiem Himmel oder etwas Swing
(tanzbar, klare Melodien) kann natürlich keiner was sagen, aber Modern Jazz? Nein, da ist dann bei den meisten Leuten Schluss. Das ist ein Nerd-Ding für ein paar Rotweintrinker, die sich für
intellektuell halten, Nischenmusik von Fans für Fans.
Doch woher kommt diese ablehnende Haltung gegenüber einem Genre, welches uns nun seit über 120 Jahren begleitet und unsere musikalische Entwicklung so entscheidend
geprägt hat? Für Hörer von Pop-/Rockmusik ist eines der schwierigsten Elemente des modernen Jazz (»modern« meint hier ab 1940) sicher das Improvisieren. Wie soll man eine Melodie mitsingen, die sich
ständig ändert? Kaschieren die Musiker damit nicht einfach ihre Unfähigkeit, sich die Tonfolge zu merken?
Ornette Coleman, Erfinder des Free Jazz, sagte einmal zum Thema Improvisation: »Wenn du morgens aufstehst, musst du dich zuerst anziehen, bevor du hinausgehen und
deinen Tag leben kannst. Aber deine Kleidung sagt dir nicht, wohin du gehen kannst, sie geht dorthin, wo du hingehst. Eine Melodie ist wie deine Kleidung.«
Die Melodie eines Stücks nur als grobe Orientierung zu verstehen, mit der man in der Folge machen kann, was man will, ist für den geneigten Fan von Rihanna, Ed
Sheeran oder Depeche Mode sicher erst einmal gewöhnungsbedürftig. Aber es lohnt sich, der Idee eine Chance zu geben.
Ich fragte einmal einen Freund, der ein ausgesprochener Weinkenner ist, ob er verstehen könne, warum Leute Hunderte oder gar Tausende Euro für eine seltene Flasche
Wein ausgeben. Er antwortete: »Ich hatte neulich mal die Gelegenheit, mir mit ein paar Gleichgesinnten eine Flasche Wein für über tausend Euro zu teilen – und als ich mir den ersten Schluck über die
Zunge perlen ließ, sind mir vor Freude fast die Tränen gekommen.« Er fügte aber sofort hinzu: »Ich habe allerdings fast 35 Jahre gebraucht, um meine Zunge dementsprechend zu schulen! Als junger Mann
hätte ich diese Komplexität überhaupt nicht verstanden.«
Nun erwarte ich nicht, dass der interessierte Leser sich 35 Jahre durch obskure Free-Jazz-Platten quält, um schließlich die Komplexität eines Ornette Coleman zu
verstehen, die Message ist vielmehr: Ein Schritt nach dem anderen! Man kann nicht von sich erwarten, als Laie gleich herauszuhören, dass John Coltrane in der letzten Kadenz von »Russian Lullaby« 90
Noten in unter 10 Sekunden spielt – und man kann schon gar nicht wissen, wie viel Mut, Weisheit und Können dazugehört, sich so etwas auszudenken.
Apropos Coltrane: Es ist auch keine so gute Idee, sich im Internet Listen von bedeutenden Jazz-Alben anzusehen und sich deswegen als Start in eine großartige Liebe
zum Jazz das sehr oft auf Platz 1 stehende Album »A Love Supreme« von John Coltrane beim gemeinsamen Kochen als Hintergrundmusik aufzulegen. Spoiler: Das Album ist großartig, aber eben auch
sehr komplex.
Tipp: Auf der Liste direkt neben »A Love Supreme« werden Sie »Kind Of Blue« von Miles Davis finden. Schulen Sie Ihre musikalische Zunge lieber mit diesem Album (und
hören Sie zu – also schnibbeln Sie dabei kein Gemüse und unterhalten Sie sich schon gar nicht nebenher). Oder versuchen Sie es mit dem jungen Chet Baker – der singt sogar manchmal. Denken Sie nicht
zu viel darüber nach, was einem dieses oder jenes Solo sagen soll, sondern genießen Sie einfach die Kraft, Poesie und Erzählfreude der Musiker. Irgendwann
werden Sie dann vielleicht etwas über Ihre Lieblingsalben nachlesen wollen – und werden überrascht sein, wie viel in manchem Fall und wie wenig in einem anderen dahintersteckt.
Auf jeden Fall muss man, um Jazz zu hören (und zu lieben), nicht Musik studiert haben, und man sollte auch nicht jede Note intellektualisieren. Das sagt sogar
Jazz-Saxofonist Joshua Redman: »Wer sagt, dass man Jazz verstehen muss, dem antworte ich, dass ich ihn nicht verstehe. Wir kommen der Musik jedenfalls nicht näher, wenn wir sie mit zu viel Gerede
überfrachten.«