Kolumne

Tim Thoelke über Hartgummi, Läuse und Nagellack

 

 

In unserem Haushalt gab es früher einen alten Kofferplattenspieler, ein recht schweres grau-schwarzes Ding aus den 60er-Jahren, sehr robust und deswegen gut geeignet zur Nutzung durch uns Kinder. Die generelle Handhabung und Funktionsweise eines Plattenspielers, der auf fast mystische Weise Töne aus winzigen Rillen erzeugt, grenzte für mich damals wie heute fast an Zauberei. Als Emil Berliner 1887 das Patent für die Schallplatte und das Grammophon anmeldete, hätte er sich sicher nicht träumen lassen, dass diese faszinierend einfache Technik, die sogar ohne Elektrizität funktioniert, in der Folge milliardenfach genutzt und spätestens ab der Erfindung des Rock 'n' Roll Millionen von Teenagerleben prägen, zum Teil sogar maßgeblich verändern würde.

 

Die erste Generation Schallplatten, die bis 1893 hergestellt wurden, bestand noch aus Hartgummi und hatte etwa die Größe einer heutigen CD – ab dann verlegte man sich bei der Produktion auf Schellack, das Material ließ sich einfacher verarbeiten und erlaubte somit die industrielle Herstellung großer Mengen. Mit der neuen Substanz kam auch ein neues Format: Fortan fertigte man in der Regel Platten mit 25 cm Durchmesser und ca. drei Minuten Spielzeit pro Seite. Um trotzdem ganze Konzerte und Opern veröffentlichen zu können, brachte man buchartige Mappen auf den Markt, die bis zu 30 Schallplatten enthielten. Aufgrund der Ähnlichkeit zu Fotoalben übernahm man den Begriff »Album«, der bis heute für ein musikalisches Werk mit mehreren Stücken geläufig ist. Und auch die Auswirkungen der Massenproduktion sind bis heute sichtbar: Wer sich hin und wieder auf einem Flohmarkt aufhält, kennt die meist wenig beachteten Pappkartons voll verstaubter Schellackplatten, oft ohne Coverhüllen und in bemitleidenswertem Zustand.

 

Schellack ist entgegen des ersten Eindrucks kein Plastik, sondern ein Naturprodukt. Die harzige Substanz wird aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus gewonnen und soll eigentlich nicht zum Tanzen und Mitklatschen animieren, sondern die abgelegten Eier der Insekten schützen. Allerdings werden pro Kilogramm Lack etwa 300.000 Läuse benötigt, weswegen man dem Pressmaterial noch andere Stoffe wie Baumwollflocken und Schiefermehl hinzufügte – außerdem Ruß, der den Platten ihre schwarze Farbe gab und die Nadel leichter durch die Rille gleiten ließ.

 

Auch wenn Schellack erst durch die Tonträgerproduktion allseits bekannt wurde, gab es schon vorher vielseitige Nutzungen für das Insektenharz. So wurde Schellack lange als Siegellack, Kitt, Kleber oder Politur verwendet und kommt heute noch als Überzugsmittel für Schokolade, Kaugummidragees oder Medikamente zum Einsatz. Mittlerweile ist das Material einem größeren Teil der Bevölkerung vor allem als Nagellack bekannt, allerdings eher als generischer Markenname, der neben »Gel« und »Acryl« auf Schaufenstern von Nagelstudios steht – denn in Wirklichkeit enthalten nicht alle unter der Bezeichnung »Shellac« verkauften Nagellacke tatsächlich Schellack.

 

Als Material zur Tonträgerherstellung war die Substanz über 50 Jahre alternativlos, auch weil ein Verfahren zur Herstellung von größeren Mengen Kunststoff Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht erfunden war (Bakelit wurde erst 1907 patentiert). Im Gegensatz zum ab den 50er-Jahren eingeführten Vinyl (aka Polyvinylchlorid) ist Schellack spröde und bricht dadurch relativ schnell. Mir ist es selbst schon passiert, dass ich eine fast hundert Jahre alte Platte ungeschickt abgelegt und dabei zerbrochen habe. Die Bruchkanten können scharf und spitz sein, weswegen man – auch im Hinblick auf den Schallplattenmarkt für Kinder – die Produktion nach dem Krieg schließlich auf Vinyl umstellte. Der Vorteil von Schellackplatten ist, dass sie, auch wenn sie schon arg ramponiert aussehen, meist noch ganz gut abspielbar sind: Die Rille ist breiter als bei Vinyl und wird nur seitlich abgetastet, was sie unempfindlicher gegenüber Oberflächenbeschädigungen und Störgeräuschen durch Verschmutzung macht. Dementsprechend ist die Nadel, die zur Abtastung benutzt wird, dicker als eine normale Saphir- oder Diamantnadel. Moderne Nadeln können nicht den gesamten Tonumfang einer Schellackpressung abbilden – stattdessen zerstören sie die Platte über kurz oder lang.

 

Ein altes Grammophon braucht man zum Abspielen allerdings nicht, mit einem gewöhnlichen Plattenspieler und einem entsprechenden Nadelsystem können Schellackplatten problemlos wiedergegeben werden – zumindest dann, wenn das Gerät neben den üblichen Geschwindigkeiten für LPs (33) und Singles (45) noch die Funktion hat, den Plattenteller mit 78 Umdrehungen pro Minute kreisen zu lassen.

 

Unser alter Plattenspieler hatte diese Funktion und als Kinder haben wir mit dem größtem Vergnügen Vinylschallplatten auf 78 abgespielt und uns über die Bands amüsiert, die klangen, als hatte man sie unter Starkstrom gesetzt – am lustigsten waren aber natürlich die Sänger, deren Stimmen sich anhörten wie nach einem tiefen Atemzug aus einem Heliumballon.

 

 

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