Kolumne

Tim Thoelke über Sommerprobleme, Frau Holle und Schlager

 

 

Foto: Enrico Meyer

Als ich im Sommer meine nackten Füße in die kalte Ostsee stellte, fiel mir unweigerlich der alte Nina-Hagen-&-Automobil-Schlager „Du hast den Farbfilm vergessen“ ein. „Landschaft und Nina und alles nur schwarz-weiß“ – trällerte sie 1974. Probleme, die die Welt heute nicht mehr kennt, aber trotzdem ein schönes Stück deutsche Schlagergeschichte. Nur vier Jahre später (mittlerweile in die Bundesrepublik übergesiedelt) schlug sie schon ganz andere Töne an und formulierte folgendes Sommerproblem: „Wie man weiß, ist es heiß – ich brauche Wasser, denn ich schwitze auf der Ritze.“

 

Ich war sechs, als mein älterer Bruder Nina Hagens erste LP mit nach Hause brachte, auf der sich unter anderem das oben zitierte Lied „Heiß“ befand. Ich liebte diese Platte innig, auch wenn ich nicht die geringste Ahnung hatte, wovon Nina da eigentlich sang. Ich wusste weder was Fromms bedeutet noch was Gonokokken sind und verstand auch nicht, was Frau Hagen mir sagen wollte, wenn sie am Ende eines Liedes „GOTT IST TOT!“ schrie. Heute ist mir klar, dass sie mit den Worten „Dann geh ich mit Frau Holle auf'n Strich“ einen Plan zur Einnahme von Kokain skizzierte. Damals dachte ich, dass sie einfach aus Spaß an der Freud den guten Namen der liebenswerten Märchenfigur in den Dreck ziehen wollte – und fand das ziemlich stark.

 

Drogen, Geschlechtskrankheiten, Abtreibung: nicht wirklich die Themen, die ich von anderen Schlagern gewohnt war. Doch ich ahnte, dass das alles irgendwie VERBOTENE Sachen waren – was das Ganze natürlich umso anziehender machte.

 

Außer Nina Hagen kannte ich damals eigentlich nur Sängerinnen, die auf der Äonen entfernten, ganz anderen Seite des Schlagerkosmos agierten. Die Frauen, die meine Mutter so lautstark hörte (und bei denen sie leider oft mitsang): Mireille Mathieu, Nana Mouskouri, Milva. Im gleichen Jahr wie Ninas „Heiß“ erschien ein Song, der nicht nur Milvas erster und bis heute größter Hit in Deutschland ist, sondern auch intensiv meine Aufmerksamkeit erregte, weil er endlich zu erklären schien, was die Mädchen von mir als Jungen erwarteten: „Ich mag dich, weil du klug und zärtlich bist“, schmachtete die Italienerin in ihrer Blaupause für erfolgreiches „Zusammenleben“. DAS war es also, was ich brauchte, um die Aufmerksamkeit der Klassenschönheit meiner Grundschule zu erregen. Ich war bisher (auch aufgrund intensiven Konsums von Bud-Spencer-Filmen) immer davon ausgegangen, dass laut und rüpelhaft die anziehendsten Attribute für Mädchen waren – alles Quatsch! Klug und zärtlich, DAS musste man sein!

 

Doch das bedeutungsvolle Stück war an dieser Stelle leider noch nicht zu Ende. Ich dachte damals lange darüber nach, was Milvas darauffolgende Worte bedeuten sollten (und natürlich, wie ich sie in puncto Klassenschönheit zur praktischen Anwendung bringen konnte): „Und doch, das ist es nicht allein – du zeigst mir immer, dass es möglich ist, ganz Frau und trotzdem frei zu sein.“

 

Was?

 

Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich zu dumm war, diese Zeilen zu verstehen, womit ich unglücklicherweise auch das „klug“ aus dem ersten Liedteil von meiner Haben-Seite streichen musste. Es blieb also nur eine Möglichkeit, doch noch Eindruck bei einem Mädchen zu machen: doppelte Zärtlichkeit! Das wollte ich mir merken!

 

Im Nachhinein nutzte mir diese Erkenntnis allerdings wenig. Es blieb nämlich leider rätselhaft, wie man dazu kommen sollte, diese Taktik bei einer Person anzuwenden, mit der man sich nicht einmal traute zu reden.

 

Drei Sommer später, mittlerweile in den Achtzigern angekommen, bestärkte mich die Schlagersängerin Hanne Haller grundsätzlich in meiner Theorie und nahm zusätzlich Druck von uns Jungs (Männern). „Weil du ein zärtlicher Mann bist“, erklärte sie 1981, „leb ich so gerne mit dir“ und belegte damit immerhin Platz 22 der deutschen Single-Charts. Auch wenn man den ganzen Text dieses Liedes studiert: Man findet kein Wort mehr von klug. Es schien, als stünde Intelligenz nicht mehr ganz so hoch im Kurs wie noch Ende der Siebziger. „Blaue Augen“ (Ideal) zu haben, keinen „Knutschfleck“ (Ixi) zu machen, einfach der unnahbare „Traumboy“ (Frl. Menke) zu sein, wurde jetzt gefordert.

 

Unabhängig davon brachte Nena etwas später meine Verführungsstrategie zurück in die Charts: Irgendwie, irgendwo, irgendwann – Die Zeit ist reif für ein bisschen Zärtlichkeit.“ Ja, da rannte sie bei mir 1984 offene Türen ein: Für mich war die Zeit wirklich reif und ich bereit für Tag X. Und tatsächlich, kurz darauf, nun ja, ich möchte hier nicht zu sehr ins Detail gehen, aber ich kann so viel sagen: Mit doppelter Zärtlichkeit macht man nichts falsch. Das gilt übrigens immer noch auch im Jahr 2018.

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