Kolumne

Tim Thoelke über Italo Disco und den Erfolg des Scheiterns

 

Foto: Enrico Meyer

Vor Kurzem fragte mich ein Leipziger Autor und Literaturveranstalter, ob ich nicht Lust hätte, im Rahmen einer Lesereihe einen Vortrag über Italo Disco zu halten. Natürlich hatte ich, denn dieses großartige und gleichzeitig ziemlich unterschätzte Musikgenre findet schon seit geraumer Zeit meine besondere Aufmerksamkeit.

 

Aufgrund der vielen Missverständnisse um den Begriff Italo Disco ist es vielleicht zunächst ganz hilfreich zu klären, was Italo Disco NICHT ist – es geht dabei nämlich weder um italienischen Pop à la Adriano Celentano noch um deutschen Schlager mit Italien-Thema der Bauart „Zwei kleine Italiener“. Nein, in Wirklichkeit handelt es sich um eine der ersten Varianten elektronischer Musik, die fast ausschließlich zum Tanzen produziert wurde und zwischen 1983 und 1987 die europäischen Charts stürmte. Im Unterschied zum perfekten Synth-Pop von Soft Cell oder der Eurythmics, stößt man bei Italo Disco allerdings auf eine mitunter sehr erfrischende und unterhaltsame Portion Trash und Kitsch.

 

Der Begriff Italo Disco führt aber nicht nur den deutschen Musikliebhaber ein wenig in die Irre, auch in Italien selbst wurde er nie verwendet und war dort lange vollkommen unbekannt. Bernhard Mikulski, der Chef des deutschen Labels ZYX, kreierte ihn 1983 zur besseren Vermarktung und versuchte damit den nach wie vor bestehenden Bedarf der deutschen Discotheken an schlichter, geradliniger Tanzmusik zu decken, der nach dem Ende der 70er-Jahre-Discowelle aus den USA nicht mehr befriedigt wurde.

 

Dabei half eine kleine technische Revolution. Im Gegensatz zu den 70ern gab es Anfang der 80er nämlich (einigermaßen) bezahlbare Keyboards, und so konnte man plötzlich mit etwas Talent quasi im Alleingang Songs aufnehmen. Ohne Orchester, ohne Schlagzeug, ohne große Plattenfirma. Da die Italiener durch ihre schwache Lira mit Schallplatten-Importen ohnehin ihre liebe finanzielle Not hatten, nutzten sie dieses Mittel von Beginn an mit besonderer Leidenschaft.

 

So gab es aus Italien auf einmal eine regelrechte Flut von Veröffentlichungen, und auch wenn man nicht gerade übertrieben virtuos an seinem Instrument agierte, wussten die einfachen und gut gelaunten Melodien doch schnell zu überzeugen und kletterten, verpackt in Songs wie „Dolce Vita“ von Ryan Paris oder„I Like Chopin“ von Gazebo, an die Spitze der Charts. Und das, obwohl das Ergebnis oft gar nicht hundertprozentig so war, wie es die Italo-Produzenten geplant hatten – denn die wollten eigentlich so klingen wie Depeche Mode oder Yazoo, was ihnen praktisch nie gelingen sollte.

 

Nicht nur, dass die Italiener nicht die technischen Möglichkeiten der großen Londonder Studios hatten, es fehlte ihnen vor allem an guten Sängerinnen und Sängern. So war das Problem nicht nur, den richtigen Ton zu treffen, sondern vor allem, ohne die für uncool befundene Muttersprache auszukommen. Da man aber in den Studios zwischen Mailand und Rom kaum Englisch sprach, arbeitete man sich mit breitem italienischen Akzent an möglichst belanglosen englischen Floskeln ab, die oft nicht viel oder gar keinen Sinn ergaben. Hatte man den Gesang dann endlich auf Band, lenkte man auch schon nonchalant von ihm ab: mit Ohrwurm-Melodien und dicken Vocoder-Effekten – und das machte am Ende den speziellen italienischen Sound aus. Wir verdanken das Phänomen Italo Disco also auch dem Scheitern am britischen New Wave.

 

„Die Gruppen sangen zwar auf Englisch, doch es klang immer etwas falsch“, erinnert sich Neil Tennant von den Pet Shop Boys. Mit dieser Meinung war er auf der Insel nicht der Einzige: Der starke Akzent und die schwachen Texte verhinderten bis auf wenige Ausnahmen den Erfolg von Italo Disco in Großbritannien.

 

Sänger Brian Ice drückt es in der 2017 erschienenen Dokumentation ITALO DISCO LEGACY positiv aus: „Wir haben Songs geschrieben und gesungen, mit einer Herangehensweise, die total naiv war – und die jedem Künstler erlaubt sein sollte.“

 

Der Produzent Franco Rago gibt einen etwas differenzierteren Rückblick: „Italo-Disco-Songs sind wie B-Movies: Es gibt fantastische und andere, die sind … nun ja, du weißt, was ich meine: B-Sound!“

 

Zum Glück interessierte sich auf dem europäischen Festland in dieser Zeit kaum jemand für sinnstiftende englische Texte, und auch der „B-Sound“ störte niemanden, im Gegenteil. Italo Disco war am Ende der Dekade ähnlich erfolgreich wie das britische Pendant Synth-Pop und war in den Discotheken von Helsinki bis Athen ein riesiger Teil des Repertoires. Italo Disco gilt als maßgeblicher Einfluss auf die Entwicklung von Techno und House und wird auch heute noch weltweit von vielen DJs aufgelegt (so zum Beispiel von mir bei meiner Veranstaltungsreihe LASER DANCE im Leipziger Club Ilses Erika).

 

Vince Lancini, der mit „Disco Band“ 1984 einen dicken Italo-Hit hatte, kennt das Geheimnis des Erfolgs: „Wenn du die Songstruktur unkompliziert und einfach zu singen hältst, dann macht das diese Lieder zu etwas Bleibendem. Jeder kann einen Italo-Disco-Track mitsingen – sogar beim Rasieren. Versuch das bei einem Stück aus den 90ern! Beim Rasieren!“

 

Das scheint mir eine gute Idee – für Leute, die ihr Gesicht so gar nicht mögen.

 

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