Kolumne

Tim Thoelke über Schallplatten, seltene Vögel und Bikini-Werbungen

 

 

Foto: Enrico Meyer

Vor Kurzem habe ich mir eine Schallplatte der Gruppe Die Nerven gekauft. Guter Bandname, dachte ich, mal sehen, ob die wirklich nerven. Die Platte stellte sich in dieser Hinsicht glücklicherweise als eine Enttäuschung heraus: Sie ist richtig gut.

An sich ist es erst einmal keine besonders gute Idee, einen Tonträger aufgrund des Bandnamens zu kaufen, und doch tat ich dies nicht zum ersten Mal. Schon immer war ich fasziniert von Gruppen mit Namen, die mich verwirrten, die sich nicht wirklich einordnen ließen und die damit eine erfolgreiche Vermarktung scheinbar unnötig kompliziert machten. Daraus ergab sich für mich seit jeher eine seltsame Anziehungskraft, ein Reiz, wie er von einem seltenen Vogel ausgeht, der sich für seine exotischen und prachtvollen Schwanzfedern bewundern lässt und dafür lässig in Kauf nimmt, dass ihn die Dinger flugunfähig machen.

 

Im Laufe der Jahre erlag ich so häufig dem Charme von Schallplatten, deren Urheber sich in der Namensfindung besonders kreativ gaben, dass ich mir ungewollt eine gewisse Sammlung zulegte. Zu groß war die jeweilige Freude über einen neuen Fund, über das Poetische im Namen von I Love You But I’ve Chosen Darkness aus Texas oder das Zünftig-Rustikale in den namensgebenden Worten von Grober Knüppel aus, klar, dem Ruhrpott.

 

Im letzten Jahr erwarb ich eine LP, deren Cover der Bandname Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen schmückte, darunter der nicht minder seltsame Titel „Die Biellmann-Pirouette“. Die Verknüpfung einer offensichtlichen Herabsetzung des Betrachters (oder der Musiker) mit einer Variante der Standpirouette im Eiskunstlauf reichte mir, um einen Kauf zu rechtfertigen.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich diese Kieler Formation im weiteren Sinne dem Punkrock zuordnen lässt, ist doch gerade dieses Genre besonders häufig Brutstätte ausgefallener Namensgebung. Bereits in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wussten mich in diesem Sinne Gruppen wie Urlaub im Rollstuhl oder Brutal verschimmelt zu begeistern.

Aber auch im eher experimentellen Bereich wurde ich fündig. Neben der Band Zwiebel Zwiebel Hurra weckte die Band Hirsche nicht aufs Sofa meine Aufmerksamkeit, auch weil sie es bei Albumtiteln wie „Im Schatten der Möhre“ oder „The book of Dingenskirchen“ immer wieder auf wunderbare Art schafften, die anfänglichen Erwartungen mit dem letzten Wort zu pulverisieren.

 

Irgendwann sind natürlich auch Platten wegen des Albumtitels in meiner Sammlung gelandet. So drängte mich zum Beispiel die erste Platte der Band Mutter allein wegen ihres Namens zum Kauf: „Ich schäme mich Gedanken zu haben die andere Menschen in ihrer Würde verletzen“.

An diesen Titel denke ich oft, wenn ich ein Plakat mit einer Bikini-Werbung sehe.

 

Im Gegensatz zu diesen herrlichen Wortschöpfungen komme ich mir als Plattensammler neuerdings wie der schnöde Mainstream vor. Die halbe Welt scheint das Thema Vinyl für sich entdeckt zu haben, Zigaretten- und Alkoholmarken werben mit Bildern von sich drehenden Plattenspielern (im Vordergrund neben zwei gut gelaunten Mittzwanzigern) und Plattensammlungen (verschwommen im Hintergrund oder teilweise auf dem Boden liegend). Und der Markt gibt dem Hype recht: In den letzten Jahren wurden im Vinylbereich jährliche Umsatzzuwächse von über 30 Prozent erzielt, die Presswerke arbeiten weltweit am Limit. Auch die Leipziger Plattenpresser von R.a.n.d. Muzik mussten kürzlich in größere Räumlichkeiten umziehen, trotzdem müssen die Kunden zum Teil mit monatelangen Lieferfristen leben. Auch Plattenspieler sind wieder sehr gefragt: Mir wurde im Frühjahr auf der Leipziger Plattenbörse im Werk 2 nach sechs Jahren Pause der neue Technics vorgestellt, eine kostspielige und technisch hochgerüstete HiFi-Weiterentwicklung des legendären „1210ers“, der jetzt schon als sichere Geldanlage gilt.

 

Trotzdem wird das Ganze heißer gekocht als gegessen: Vinyl nimmt im gesamten deutschen Musikmarkt nur eine Nische von ca. 3 Prozent ein. Und größer kann der Anteil auch kaum werden, da es neben dem Presswerk in Leipzig weltweit nur etwa 50 solcher Fabriken gibt. Daran lässt sich im Moment auch gar nicht viel ändern, da es weder Pressmaschinen noch einen Hersteller für solche am Markt gibt.

 

Einschränken muss man sich als Sammler deswegen aber keinesfalls. In Leipzig gibt es einige Secondhand-Plattenläden, in denen man sich endlos mit den kuriosesten und großartigsten Platten aus der Zeit eindecken kann, in der noch über eine Milliarde davon im Jahr hergestellt wurden.

 

Vor einiger Zeit habe ich damit begonnen, Platten zu kaufen, auf denen Schiffe abgebildet sind. Allerdings interessieren mich nur Abbildungen von Booten im Meer, solche in Flüssen und Seen empfinde ich als reizlos.

 

Auch bei den skurrilsten Schallplatten ist das Verrückteste am Ende meistens der Sammler.

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