Kolumne

Tim Thoelke über Mäuse, Underdogs und Humphrey Bogart

 

 

Vor Kurzem drückte mir die Buchverkäuferin meines Vertrauens einen viereinhalb Kilo schweren Pappschuber mit drei Büchern in die Hand, der sich zu meiner großen Freude als die Gesamtausgabe des Ausnahmekünstlers Floyd Gottfredson herausstellte. Auch wenn dieser Name auf Anhieb den wenigsten Lesern etwas sagen dürfte, werden doch die allermeisten einige seiner Schöpfungen kennen: Kommissar Hunter, Inspektor Issel, das schwarze Phantom und Gamma, allesamt nur zu einem Zweck erschaffen: um mit dem berühmtesten Nagetier der Welt zu interagieren, mit Micky Maus.

 

Erfunden wurde die beliebte Maus von Walt Disney und dem Zeichner Ub Iwerks, allerdings interessierten sich die beiden kaum für gedruckte Comics. Stattdessen widmeten sie sich lieber der technisch anspruchsvolleren Aufgabe, Comicfiguren zu animieren und in Zeichentrickfilmen sprechen zu lassen (was bei Mickys Geburt 1928 eine cineastische Sensation war). Nach dem ersten Erfolg ihrer Filme brauchten die beiden schnell mehr Personal und stellten deshalb 1929 den jungen Floyd Gottfredson als Zwischenphasenzeichner ein. Als Disney kurz darauf den Auftrag bekam, Comicstrips für Tageszeitungen anzufertigen, und ihm ein Zeichner dafür fehlte, fragte er Gottfredson, ob er den Job nicht übergangsweise übernehmen könne. Gottfredson war von dem Wechsel gar nicht begeistert, wollte lieber weiter an Filmen arbeiten, doch Disney versprach ihm, dass das alles nur für 14 Tage sei.

 

Gottfredson beschrieb die folgenden Wochen später so:

Einen Monat nach meinem Wechsel begann ich mich zu fragen, ob Walt tatsächlich nach einem anderen Zeichner suchte – und nach zwei Monaten hatte ich Angst, dass er es tatsächlich tat.“

 

Doch Disney tat es nicht und so wurden aus den zwei Wochen schließlich 45 Jahre – Gottfredson arbeitete bis zu seiner Pensionierung 1975 für den Micky-Maus-Comicstrip, und als er damit aufhörte, gab es (ähnlich wie bei dem berühmten Donald-Duck-Zeichner Carl Barks) kaum jemanden, der seinen Namen je gehört hatte. Er musste seine Zeichnungen stets mit Walt Disney unterschreiben und blieb deswegen seinen Millionen von Lesern und Fans unbekannt. So auch mir, obwohl ich als Kind regelrecht vernarrt in ein Buch war, in dem einige seiner langen Abenteuergeschichten der 30er- und 40er-Jahren gesammelt waren.

 

Doch so sehr ich seine turbulenten und aufregenden Geschichten aus dieser Zeit liebte, so wenig konnte ich mit der Micky Maus aus dem gleichnamigen Magazin und den Lustigen Taschenbüchern anfangen – oder vielleicht gerade deswegen. Gottfredsons Vorkriegs-Maus ist im Gegensatz zu den späteren Publikationen nämlich alles andere als stadtbeliebt, erfolgsverwöhnt und moralinsauer. Im Gegenteil: Sein Micky ist ein Underdog, fast immer arbeitslos, manchmal obdachlos, wird gemobbt, bedroht, erpresst und gefoltert, ist Opfer von Scheinhinrichtungen und versucht sogar wiederholt, sich das Leben zu nehmen. Während er auf der Leinwand zaubern oder seinem Körper die verrücktesten Formen geben kann, ist er im Comic darauf angewiesen, seine oft lebensgefährlichen Probleme mit Mitteln zu lösen, die – zumindest theoretisch – auch dem geneigten Leser zur Verfügung stünden: Erfindungsreichtum, Durchhaltevermögen, Schlitzohrigkeit, Todesmut.

 

Er ist kleiner, schwächer und mittelloser als seine Widersacher, alles, was er am Leibe trägt, sind Schuhe und kurze Hosen, und seine größte Waffe im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt ist sein Kämpferherz. Dabei gelingt ihm beileibe nicht immer alles, oft gehen seine Pläne schief, meist braucht er viele Anläufe, um Erfolg zu haben. Seine frühen Gegner sind selten Vollzeitkriminelle, sondern, passend zur Weltwirtschaftskrise, skrupellose Anwälte, korrupte Politiker und geldgierige Vermieter – Micky kämpft gegen kriminelle Clans, Drogenhändler und später sogar gegen die Nazis. Seine Gegenspieler bleiben zum Teil lange im Verborgenen, sind mysteriös, verschlagen, manipulativ und klug. Gegen sie wirkt der Kater Karlo der LTB-Reihe wie ein dummer Junge, ein tumber und im Grunde harmloser Versager, dessen mittelmäßige Ideen oft von seiner ihn dominierenden Freundin Trudi stammen.

 

Doch warum werden die Figuren und Handlungen Anfang der 50er immer harmloser? Ein Grund ist, dass Micky mehr und mehr zum Symbol des Disney-Konzerns wird. In dieser Rolle darf er nicht mehr anecken oder ausrasten (wie zum Beispiel Donald). Er wird immer idealisierter, bekommt einen Anzug und einen Fedora-Hut verpasst und sieht plötzlich aus wie eine Vorstadt-Version von Humphrey Bogart. Er wird zu einem biederen Detektiv, der ohne echte Not oder Geldsorgen dem lokalen Kommissar zur Hand geht und in seiner Freizeit angelt oder in Minnies Haus Möbel rückt. In dieser Rolle ist er sowohl für chaotische Slapstick-Cartoons als auch für lebensgefährliche Abenteuercomics unbrauchbar geworden.

 

Micky ist unser Problemkind“, sieht auch Walt Disney schließlich ein. „Micky muss immer nett und liebenswürdig sein. Was kann man mit solch einer Führungsfigur schon anstellen?“

 

Auch wenn Walt Disney der anarchischen Maus der Anfangsjahre vielleicht ein wenig hinterhergetrauert hat, seine Strategie hat ihm recht gegeben – das Unternehmen macht heute einen Jahresumsatz von über 70 Milliarden US-Dollar. Bis zu seinem Tod hat er immer wieder betont: „Ich hoffe nur, wir verlieren eine Sache nie aus dem Blick: Alles fing mit einer Maus an.“

 

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